Achatz, Markus. "Annäherungen ans Anderssein." merz | medien + erziehung 54, no. 3 (2010): 78–81. https://doi.org/10.21240/merz/2010.3.23.
Abstract:
Das Programm der Sektion Generation auf den 60. Internationalen Filmfestspielen 2010 in Berlin befasste sich in vielen Fällen mit der Frage nach „Fremdheit“ und was dies bedeuten kann. Hervorgestochen sind Filme, die Andersartigkeit als Chance begreifen, die offen sind für neue Perspektiven und die Neugier ihrer Protagonistinnen und Protagonisten. Die Zugänge zu den teils schwierigen Themen wurden durch Verknüpfungen von Fantasie und Realität erleichtert. Neben rein fiktionalen Kurz- und Langfilmen wurden in diesem Jahr vermehrt Dokumentationen und Mischformen zwischen Doku und Fiktion in die Programmschienen Kplus und 14plus aufgenommen. Die Erweiterung fand beim jungen Publikum erstaunlich guten Zuspruch. Beispielsweise erhielt der Dokumentarfilm Wie wir leben (Neuseeland/Kanada, 2009) eine „Lobende Erwähnung“ der Kinderjury. Der "Gläserne Bär“ als Hauptpreis der 14plus-Jugendjury ging an die deutsche Doku Neukölln Unlimited (2010), in der drei Geschwister einer Familie aus dem Libanon in Berlin zwischen Anerkennung und drohender Abschiebung leben (siehe Beitrag von Isabel Rodde in diesem Heft). Als Kplus-Eröffnungsfilm lief die Dokufiktion Alamar (Mexiko, 2009) von Pedro González-Rubio. Darin begeben sich der fünfjährige Natan und sein Vater auf eine Reise aufs offene Meer. Der Junge lebt eigentlich bei seiner Mutter in Italien, sein Vater stammt aus einer Maya-Familie aus Mexiko. Während der Zeit, die der Junge bei ihm in der mexikanischen Karibik verbringt, lernt Natan unterschiedliche kulturelle Lebensräume kennen und macht völlig neue Erfahrungen mit der Natur und dem Meer. Märchenhaft: Yuki & Nina Noch stärker als für Natan in Alamar geht es für die neunjährige Yuki im Spielf ilm Yuki & Nina um das Zurechtkommen mit einer neuen Situation und um neue Erfahrungswelten. Ausgangspunkt der französisch-japanischen Produktion ist Paris. Yuki und Nina sind enge Freundinnen und verbringen zusammen so viel Zeit wie möglich. Ninas Wunsch, dass Yuki mit ihr in den Urlaub fahren darf, stößt auf große Zurückhaltung bei Yukis Mutter. Nach und nach wird klar, woran dies liegt: Yukis Eltern werden sich trennen und die Mutter plant, mit ihr in die japanische Heimat zurückzukehren. Für die beiden Mädchen bricht eine Welt zusammen. Sie beschließen wegzulaufen und als der Umzug nach Japan immer näher rückt, fahren die Kinder mit der Bahn aufs Land. Dort verstecken sie sich in einem Haus, das Ninas von der Familie getrennt lebendem Vater gehört. Als die Mädchen dort beinahe entdeckt werden, fliehen sie weiter in den Wald. Auf dem Weg in die Tiefe des Waldes wandelt sich der Film sachte. Alles scheint sich zu verändern, nicht wie in einem ‚Gruselfilm‘, sondern eher als gäbe es ein tieferes Eintauchen in die Natur. Geleitet von einem unerklärlichen, inneren Wunsch und überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein, verlässt Yuki ihre Freundin und geht immer weiter. Die Geschichte wird zur Fabel, die Märchensymbolik des Waldes zum zentralen Element. Yuki tritt schließlich auf eine Lichtung mit einem Haus. Die folgenden Szenen zeigen sie in einer trauten Runde mit anderen Mädchen spielend und scherzend. DieKinder sprechen japanisch. Yuki ist in ihrem zukünftigen Leben angekommen. Im späteren Verlauf des Films werden Yuki und Nina von Yukis Vater (gespielt von Hippolyte Girardot) im Wald wiedergefunden. Ein erneuter Wechsel am Filmende zeigt Yuki und ihre Mutter, wie sie – inzwischen in Japan angekommen – mit dem Auto an jener Lichtung und dem Haus vorbei fahren. Yuki weiß, dass sie schon einmal dort gewesen ist. Nicht nur die kindlichen Zuschauerinnen und Zuschauer sind von den Szenen wechseln und Brüchen in der Geschichte irritiert. Konsequent behalten die Regisseure das langsame Erzähltempobei. Die Zielgruppe im Kino reagiert unterschiedlich. Während manche ein lautes Gähnen nicht zurückhalten können, zieht andere die sehr poetische Erzählweise in den Bann – auf eine Art wie es auch Märchen schaffen. Das gemeinsame Werk von Nobuhiro Suwa, einem wichtigen Vertreter des japanischen Autorenkinos (Un couple parfait, 2005) und (als Regiedebüt) vonSchauspieler Hippolyte Girardot (u. a. Le Tango des Rashevski, 2005, Le Parfum d’Yvonne, 1994)gibt den kindlichen Protagonistinnen die Gelegenheit, sich weiterzuentwickeln. Und darinliegt – neben dem überzeugenden Spiel der beiden Mädchen – das Besondere an Yuki & Nina.Den Heranwachsenden wird etwas zugetraut, sie haben die Möglichkeit selbst herauszuf inden,was richtig ist. Nicht durch ein Ausblenden der Zwänge des Alltags und der Probleme derErwachsenenwelt, sondern durch Emanzipation und das Bewältigen neuer Erfahrungen. Überraschend: Superbror Weitaus zugänglicher ist dagegen der dänische Spielfilm Superbror (Superbruder, 2009) und kommt dem Anspruch auf gute Unterhaltung im Kino auch deutlich näher. In der Traditionideenreicher und übermütiger skandinavischer Kinder- und Jugendfilme schafft es Regisseur Birger Larsen, ein wirklich schwieriges Thema mit Gefühl, Spannung und positivem Lebensgefühl auszustatten. Im Mittelpunkt stehen die beiden Brüder Anton und Buller. Anton ist mit seinen zehn Jahren eigentlich der ‚Kleine‘, doch er muss ständigauf seinen älteren Bruder aufpassen. Buller ist autistisch und bekommt manchmal Angstattacken,während denen er nicht einmal alleine eine Straße überqueren kann. Ständig kritzelt er Zeichnungen, die er wie Kleinkindbilder der Mutter oder Anton schenkt. Anton ist oft genervt undes fällt ihm zeitweise schwer zu akzeptieren, dass sein Bruder so anders ist. Dennoch sorgt er sichauch um ihn und wird selbst traurig, wenn Buller bei der Mutter weint und sagt: „Ich weiß es nichtin meinem Kopf“. Auch in der Geschichte von Superbor kommt es zu überraschenden Brüchen wenn sie zwischen realistischer Familienstory und Science-Fiction-Abenteuer wechselt. Antonentdeckt in einem Park einen Meteoriteneinschlag und zieht einen dampfenden Stein ausdem Krater. Als sich herausstellt, dass es sich um etwas Außerirdisches handelt, kommt Anton einGedankenblitz. Er sammelt alle in der Wohnung verteilten Kritzeleien seines Bruders ein und setzt die einzelnen Teile wie ein Puzzle zu einem Ganzen zusammen. Das riesige Gesamtbild zeigtden Kometen und Anton wird klar, dass er Buller ins Geschehen einweihen muss. Gemeinsamöffnen sie den rätselhaften Fund und f inden eine geheimnisvolle Fernbedienung. Mit Hilfe des galaktischen „Super Trip Controllers“ wird Buller zum tatsächlichen Superbruder – mit Superkräften und galaktischer Coolness. Anton hat endlich einen Bruder, wie er ihn sich immer gewünscht hatte. Allerdings gibt’s auch Probleme mit der Superfernbedienung, denn die Wirkungszeit ist limitiert, der Countdown zählt unaufhaltsam zurück und Anton verliert die Kontrolle über „Super-Buller“. Was zunächst wie ein Desaster erscheint, macht den Jungen nachdenklich, denn ein fliegender Superbruder mit Superkräften und großer Klappe ist ja auch nicht gerade ‚normal‘. Gemeinsam mit Anton stellt sich auch das Kinopublikum die Frage: „Was ist schon normal?“ Am Schluss ist Anton sehr dankbar dafür, den ‚Wunsch‘-Buller erlebt zu haben, weiß aber gleichzeitig und ganz bestimmt: Er liebt seinen großen Bruder und zwar genau so ‚anders‘ wie er immer war. Eindrucksvoll: Dooman River Im 14plus-Programm fiel die koreanisch-französische Koproduktion Dooman River besonders auf. Der Tumen ist ein langer, breiter Fluss, der die Grenze zwischen Nordkorea und China bildet. Vor allem in der kalten Jahreszeit ist die Region um das Gewässer Schauplatz von Grenzkonflikten und Flüchtlingsdramen. Wenn der Tumen zugefroren ist, wird dasEis zur Verbindung zwischen den Armen auf der chinesischen und den Hungernden aufder nordkoreanischen Seite. Der Spielfilm erzählt in nahezu dokumentarischen Bildern vomAlltag auf der chinesischen Seite und dem Aufeinandertreffen mit den Flüchtlingen. Nachchinesischen Angaben sollen bereits über 400.000 Nordkoreanerinnen und Nordkoreaner über den Fluss geflohen sein. Die geschilderten Varianten des Umgangs mit der angespannten Situation sind vielfältig: Auf koreanischer Seite wird das Ufer von bewaffneten, schussbereiten Militärs bewacht. Eine Gruppe von Flüchtlingskindern muss ein Mädchen zurücklassen, das auf dem Weg hungrig und geschwächt zusammenbricht. Ein chinesischer Händler agiert als Schlepper. In China werden per Lautsprecher Durchsagen gemacht, dass es verboten sei, sich mit den Fremden einzulassen. Der zwölfjährige Chang-ho lebt mit seiner stummen Schwester Soon-hee im chinesischen Grenzdorf, während die Mutter das ganze Jahr über in einer fernen Großstadt arbeitet. Chang-ho freundet sich mit einem gleichaltrigen Flüchtling an. Die Kinder spielen zusammen Fußball und teilen sich das Essen. Für Chang-ho hat es keine Bedeutung, woherder Junge kommt. Die Lage wird indes dramatischer, als der Flüchtlingsjunge mit ansehen muss, wie ein betrunkener Nordkoreaner Chang-hos Schwester vergewaltigt. Dooman River zeigt die harte Realität. In seinem bewegenden Film schildert der chinesische Regisseur Zhang Lu viele Facetten im Umgang mit der Extremsituation: Großherzigkeit und Diskriminierung, Hilfe und Verrat, Freundschaft und Grausamkeit. Die 14plus-Jugendjury fand in ihrer „Lobenden Erwähnung“ für Dooman River die richtigen Worte: „Zum Schluss des Films herrschte Schweigen. Wir waren perplex von der Wucht der Bilder, von der eindringlichen Botschaft und der Stille, die dieser Film beschreibt. Jeder Aspekt des Films will uns wachrütteln, uns auf etwas aufmerksam machen, das in unserer Gesellschaft kaum jemand kennt. Ohne starke Charaktere und Musik schafft es der Film, in der Stille eine Sprache zu entwickeln, die mehr aussagt als jeder verzweifelte Schrei. “Yuki & Nina (Yuki & Nina)Frankreich, Japan 2009, 92 minRegie: Nobuhiro Suwa, Hippolyte GirardotDarsteller: Noë Sampy (Yuki), Arielle Moutel (Nina), Hippolyte Girardot (Yukis Vater), Tsuyu Shimizu (Yukis Mutter),Marilyne Canto (Ninas Mutter)Produktion: Comme des Cinémas (Paris); Weltvertrieb: Films Distribution (Paris) Superbror (Superbruder)Dänemark 2009, 89 minRegie: Birger LarsenDarsteller: Lucas Odin Clorius (Anton), Victor Kruse Palshøj (Bullet), Anette Støvelbæk (Anja), Andrea Reimar (Agnes), Nicolai Borch (Max)Produktion: Nordisk F ilm AS (Valby); Weltvertrieb: Trust Nordisk (Hvidovre) Dooman River (Dooman River)Republik Korea, Frankreich 2009Regie: Zhang LuDarsteller: Cui Jian (Chang-ho), Yin Lan (Soon-hee), Li Jinglin (Jeong-jin), Lin Jinlong (Großvater)Produktion: Lu F ilms (Seoul); Weltvertrieb: Arizona Films (Paris)